25. Mai 2023
Die EU-Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Ursula von der Leyen, die mit Pfizer einen milliardenschweren Impfstoffdeal per SMS besiegelte – und dem Pharmakonzern so nebenbei auch das Quasi-Monopol gesichert hat. Ein Gastbeitrag von Martin Sonneborn und Claudia Latour.
Korruption, Machtmissbrauch, Wettbewerbsverzerrung: Die Liste der Verwürfe gegen EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen ist lang.
IMAGO / Chris Emil JanßenGuten Tag draußen an den Geräten, gerade ist ein Zwischenergebnis der Nachverhandlungen von EU-Kommission und dem US-Pharmagiganten Pfizer durchgesickert – allerdings nicht zu UNS oder IHNEN DA DRAUSSEN, sondern zu Journalisten der britischen Financial Times und der Nachrichtenagentur Reuters.
Wenn deren Berichte zutreffen, dann schlägt die Kommission vor, die Pfizer gegenüber bestehende Zahlungsverpflichtung in Höhe von 10 MILLIARDEN EURO durch eine Pfizer gegenüber bestehende Zahlungsverpflichtung in Höhe von 10 MILLIARDEN EURO zu ersetzen.
Ein interessantes Hütchenspiel.
Und während wir uns noch fragen, warum wir diesen Knaller nicht auch in der deutschen Presse finden können, wollen wir Entstehung und Inhalt der EU-Impfstoff-Verträge noch einmal kurz rekapitulieren.
»Es war der mit Abstand umfangreichste aller EU-Impfstoffverträge – und mit einem mutmaßlichen Volumen von 35 Milliarden Euro auch der größte Kaufvertrag, den die EU-Kommission je mit einem singulären Marktakteur geschlossen hat.«
Im Mai 2021 hatte die Kommission den größten Deal der Pharmageschichte abgeschlossen. Nach zwei ersten Vereinbarungen (vom November 2020 und Februar 2021) mit Pfizer/Biontech über den Kauf von (insgesamt) 600 Millionen Dosen gab sie eine nochmalige Bestellung über zusätzliche 900 Millionen Dosen auf – mit einer Option auf 900 Millionen weitere, die (dankenswerterweise) nie ausgelöst wurde.
Es war der mit Abstand umfangreichste aller EU-Impfstoffverträge – und mit einem (mutmaßlichen) Volumen von 35 MILLIARDEN EURO auch der größte Kaufvertrag, den die Kommission je mit einem singulären Marktakteur geschlossen hat. Allein das ist Grund genug für eine genauere Betrachtung.
Mit diesem dritten Pfizer-Vertrag stieg nicht nur die Abnahmemenge um 25 Prozent, sondern auch der Preis: von 15,50 auf 19,50 Euro pro Dosis. Ein historisch einmaliger Megadeal, bei dem mit zunehmender Abnahmemenge auch die Stückpreise steigen? Wir taufen diesen pfiffigen Mechanismus hiermit der Einfachheit halber auf den Namen »Leyen-Effekt«. Und legen ihn bei Gelegenheit mal einem blutigen BWL-Anfänger zur genaueren Begutachtung vor – und zwar zusammen mit dem Skalen-, Nikolaus- und Mengenrabatt-Effekt, lol.
Zudem verschaffte die Kommission dem Unternehmen Pfizer, das den Markt bereits zuvor dominiert hatte, damit das Quasi-Monopol für den EU-Impfstoffmarkt – ein offener Verstoß gegen das ansonsten mit Argusaugen gehütete EU-Wettbewerbsrecht. Zu guter Letzt wurden sowohl Herstellerhaftung als auch (spätere) Vertragsanpassungen und Ausstiegsklauseln weitestgehend ausgeschlossen.
Hüstel.
Wir halten dieses Ding in seiner Gesamtheit für den lausigsten Vertrag, der von Kommissionsfachkräften je verhandelt (oder abgeschlossen) wurde – immerhin werden EU-Beamte ja nicht nur mit ausgefuchstem Elitenschulenwissen vollgestopft, sondern auch noch in Kursen wie »Verhandlungsgeschick für Dummies« oder »Top Deal’s – so geht’s | TÜV NORD« sorgfältig für die Ausübung ihrer Hauptaufgabe trainiert, dem korrekten Ausspielen ihrer versammelten Verhandlungsmasse: 450 Millionen Menschen wie Sie (der »größte Binnenmarkt der Welt«). Wir kennen Sonderschüler, die vor diesem Hintergrund weit bessere Vertragsbedingungen herausgeschlagen hätten als alle, die in diesem dritten Pfizer-Vertrag zu finden sind.
»Kein anderer Pharmakonzern auf der ganzen Welt musste seiner Geschäftspraxis wegen so häufig von Behörden und Gerichten gemaßregelt werden wie Pfizer.«
Zustande gekommen war er übrigens, nachdem Frau von der Leyen über Monate in direktem fernmündlichen und kurznachrichtlichen Austausch mit Albert Bourla gestanden hatte, dem CEO eines weltbekannten Potenzmittelproduzenten, der ausweislich seiner eigenen Unternehmensgeschichte als bestenfalls unseriös eingestuft werden muss, wenn nicht gar als KRYPTOKRIMINELL. Kein anderer Pharmakonzern auf der ganzen Welt musste seiner Geschäftspraxis wegen so häufig von Behörden und Gerichten gemaßregelt werden wie Pfizer – im Durchschnitt viermal pro Jahr. In 22 Jahren bringt das Unternehmen es auf neunzig dokumentierte Sanktionsmaßnahmen, denen teils gravierende Rechtsverstöße vorausgingen. (Und gezählt wurden ja nur jene, die auch aufgeflogen sind.)
Von der Leyen hat die offiziellen EU-Vertragsgespräche mit der Pharmaindustrie, die nach einem festgelegten Protokoll von mandatierten Verhandlungsführern und Experten der Kommission durchzuführen waren, alllem Anschein nach erfolgreich unterlaufen und die Verhandlungen für diesen dritten, größten, teuersten, wettbewerbsverzerrendsten und stümperhaftesten Pfizer-Vertrag in seinen entscheidenden Teilen an sich gezogen – unter Überschreitung ihrer Amtszuständigkeit als Kommissionspräsidentin und Verletzung der für EU-Beamte verbindlichen Verfahrensvorschriften.
Das würde jedenfalls erklären, warum die Kommission dem Europäischen Rechnungshof für diesen EINEN Vertrag – im Unterschied zu allen anderen – keinerlei internes Bürokratiebeiwerk vorlegen konnte, keine Verhandlungsmitschriften, keine Vorverträge, keine handgekritzelten Galgenmännchen mit Zahlen dran, nichts.
Seit zwei Jahren verweigern Kommission und von der Leyen, die ihre Transparenzverbundenheit immer mit ohrenbetäubend geschmacklosen Verbalkaskaden simuliert hatte, nun schon die Veröffentlichung der abgeschlossenen VERTRÄGE – selbst Parlament und Untersuchungsausschuss bekommen nichts als durch Schwärzung unkenntlich gemachte Ausfertigungen zu Gesicht.
Ebenso kategorisch verweigern sie die Herausgabe der vertragsvorbereitenden SMS-NACHRICHTEN zwischen von der Leyen und Bourla – und widersetzen sich damit nicht nur dem (rechtmäßigen) Auskunftsbegehren von Journalisten und EU-Abgeordneten, sondern auch den Anfragen der Europäischen Bürgerbeauftragten und sogar der (ziemlich) nachdrücklichen Aufforderung des Europäischen Rechnungshofes.
Wir halten das langsam wirklich für lächerlich. So nachvollziehbar alles Geraune um Geschäfte, Gewinne und Geheimnisse in den sonderbaren Zeiten der Pandemie (für einige) noch gewesen sein mag, so unhaltbar ist es heute. Über zwei Jahre nach den in Frage stehenden Vertragsabschlüssen kommt die weitere Aufrechterhaltung dieser institutionellen Intransparenz allmählich einem Akt böswilliger politischer Behinderung gleich, einer »Obstruktion«, so die Europäische Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly, die es in höchstem Maße »verwirrend« findet, dass von der Leyen sich immer noch weigert, auf die zahllosen Beschwerden und Klagen (unter anderem von der New York Times) auch nur einzugehen.
Diese (beharrliche) Verschleierung ist demokratischer Verhältnisse nicht würdig – und zudem auch gänzlich unnötig, denn jedes »schützenswerte Geheimnis« von damals kann heute in den Geschäftsberichten, Absatzstrategien und Preislisten der Betrüger-Firma Pfizer ja längst offen besichtigt werden.
»Während die strafrechtliche Untersuchung der ursprünglichen Verträge durch die Europäische Staatsanwaltschaft noch in vollem Gange ist, hat sich die Kommission schon wieder in neue Verhandlungen mit Pfizer begeben.«
Falls es also tatsächlich jemandes Absicht gewesen sein sollte, »Transparenz«, »Demokratie«, »Bürgernähe« und das »Vertrauen« in die »Politik« zu »stärken« (Sie lasen: Auszüge aus der Antrittsrede Ihrer höchsten Exekutivbeamtin), so können wir der Kommissionspräsidentin nur zurufen: NA DANN MAL LOS. Niemand hindert Sie.
Und während die strafrechtliche Untersuchung der ursprünglichen Verträge durch die Europäische Staatsanwaltschaft EPPO, bekannt seit Oktober letzten Jahres, noch in vollem Gange ist, hat die Kommission es schon wieder getan.
Sie hat sich in neue Verhandlungen mit Pfizer begeben – natürlich nicht ohne die dezidierte Absicht, jede ihrer bisherigen Verfehlungen noch einmal in Zeitlupe zu wiederholen: Wieder wird hinter verschlossenen Türen in geheimen Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und Umgehung ihrer (eigenen) Rechenschaftspflicht über die Verwendung von EU-Geldern zum EU-weiten Ankauf von Produkten eines einzigen US-Herstellers entschieden. Deutlicher könnte ein hinter institutionellem Gestrüpp verschanztes System seine notorische Unfähigkeit zur Selbstkorrektur nicht mehr zeigen.
Die (zugänglichen) Informationen sind (daher erneut) spärlich und nicht frei von Unklarheiten. Wir wagen es dennoch, uns das aktuelle Geschehen wie folgt zusammenzureimen.
Es geht um die »Anpassung« des gigantischen (dritten) von-der-Leyen-Pfizer-Vertrages, mit dem die Kommission sich zur Abnahme von 900 Millionen Dosen bis Ende 2023 verbindlich verpflichtet hatte. Etwa 400 Millionen dieser Einheiten wurden bereits geliefert, die restlichen 500 Millionen müssen in diesem Jahr von den EU-Mitgliedern noch abgenommen werden.
Unnötig zu erwähnen, dass die Nachfrage nach Impfstoffen praktisch zum Stillstand gekommen ist, während die Impfstofflager aus allen Nähten platzen und alle zuvor durch Aufdruck (sogar in Blindenschrift) angekündigten Verfallsdaten – eines nach dem anderen – nun überraschenderweise auch tatsächlich verstreichen.
Seit einem geschlagenen Jahr versuchen die (ohnedies von multiplen Belastungen geknebelten) Mitgliedsstaaten nun schon, sich aus ihrem Vertragsschicksal doch noch irgendwie herauszuwinden. In der Hoffnung auf herstellerseitige Kulanz bitten die einen in bestem Beamtendänisch um einen Preisnachlass, während andere glauben, ein Hinweis auf übervolle Lagerstätten (»Nix Platz!«, »Lager voll!!«, »Wegen Überfüllung geschlossen!«) könnte ihnen irgendwie weiterhelfen (Slowenien).
Die Slowakei und Lettland sind bereit, statt des Impfstoffs einen Riesenhaufen anderer Leckereien aus dem (bunten) Sortiment von Pfizer zu schlucken, was gegen Schädelweh und Potenzprobleme vielleicht, egal. Und während Spanien überschüssige Bestände schon resigniert vernichten lässt, um das Elend wenigstens nicht mehr täglich sehen zu müssen, hatte man in Griechenland den überaus anarchistischen Einfall, die Paketsendungen der Pharmaindustrie einfach zu Amazon-Retouren zu degradieren und zurückzuschicken: »Passt gar nicht, nächste mal korrekte Größe schicken, tschüssi!«
Das alles war natürlich vergeblich, der Kaufvertrag lässt den Staaten kein Entkommen. 500 Millionen Dosen müssen schleunigst abgenommen werden, Pfizer besteht auf Einhaltung des Vertrages, droht mit Klagen und lässt selbst Meteoriteneinschlag und Kriegsausbruch nicht als außergewöhnlichen Umstand zur Vertragsabänderung gelten. Polen hat es versucht, vergeblich.
»Pfizer sei bereit, die ursprünglich bestellten, nun aber nicht abgenommenen Einheiten gegen eine Stornogebühr von 2,2 Milliarden Euro zu streichen.«
Erstaunlicherweise hat auch die Kommission sich lange dagegen gesträubt, diese bombastische Mutter aller verunglückten Verträge noch einmal anzurühren – trotz eines nicht mehr zu übersehenden Überangebots. Erst nach massivem Druck aus Bulgarien, Polen, Ungarn, Litauen, Italien, Österreich, Rumänien und anderen Ländern erklärte sich die Kommission zur Aufnahme von Nachverhandlungen bereit, wenn auch mit einem markerschütternden Zähneknirschen der Stufe 8 (Richter-Skala).
Ausgangspunkt der Nachverhandlungen sind die noch abzunehmenden 500 Millionen Dosen. Beim Listenpreis von 20 Euro ergibt das eine (aus dem 2021 abgeschlossenen Laien-Vertrag stammende) Verbindlichkeit in Höhe von 10 MILLIARDEN Euro.
Der Financial Times zufolge sieht der nachverhandelte Vertrag nun vor, die abzunehmende Impfstoffmenge von 500 Millionen Einheiten auf insgesamt 280 Millionen zu reduzieren. Abgenommen werden sollen künftig 70 Millionen Dosen pro Jahr bei gleichzeitiger Streckung des Lieferzeitraums bis 2026. Pfizer sei bereit, die ursprünglich bestellten, nun aber nicht abgenommenen Einheiten gegen eine »Stornogebühr« von 10 Euro pro Dosis zu streichen – aber nur, wenn die EU im Gegenzug einen höheren Preis für die bis 2026 zu liefernden Dosen akzeptiere. In dunklen Schulhofecken (und der Pharmabranche) nennt man so etwas eine »Flexibilitätsgebühr«.
Wenn wir uns nicht verrechnet haben, dann macht das bei 220 Millionen in Abweichung zum ursprünglichen Vertrag zu streichenden Impfdosen einen Betrag von 2,2 MILLIARDEN Euro.
2,2 MILLIARDEN Stornogebühr für eine nicht zu erbringende Leistung – das klingt nach einem Geschäft, das wir auch gern mal machen würden, zumal es sich hier um den reinsten aller Reingewinne handelt, denn unternehmensseitig dürften noch nicht einmal die Stückkosten von rund 70 Cent anfallen. Es sei denn natürlich, Pfizer stellte die stornierten Impfdosen trotzdem her, nur um den eigenen Schöpfungsakt dann umgehend mit vollständiger Vernichtung zu torpedieren – nur so aus Jux vielleicht. (Ein Schicksal, das übrigens 90 Prozent der von Sanofi und Novavax an die EU gelieferten Impfstoffe beschieden war.)
In einer schriftlichen Stellungnahme von Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides heißt es, man habe neben dieser »erheblichen Verringerung der Dosen« (Stornogebühr: 2,2 MILLIARDEN) auch die »Verlängerung unseres Vertrags bis weit über das Jahr 2023 hinaus erreicht«.
Sie haben richtig gelesen: Verlängerung. Dem neuesten Entwurf zufolge will die Kommission sich verpflichten, bis 2026 jährlich 70 Millionen Dosen abzunehmen, um ihren »Umstieg auf neuere Impfstoffe« zu organisieren. Diese sind allerdings nicht mehr nach der bisherigen (20 Euro pro Schuss), sondern einer noch unbekannten neuen Preisliste zu vergüten, die für jeden künftig »angepassten« Impfstoff einen gleichermaßen »angepassten« höheren Preis vorsieht.
»Unnötig zu erwähnen, dass Pfizer seine in der EU erwirtschafteten Gewinne natürlich über die legalen EU-Steueroasen Irland, Niederlande und Luxemburg abwickelt.«
Wenn wir uns nicht verrechnet haben, dann kommen damit nochmals mindestens 5,6 MILLIARDEN Euro aus verbindlichen EU-Verträgen auf die Sparbücher und Offshore-Konten von Pfizer, falls diese bis dahin nicht geborsten sind. Und angesichts des von Pfizer aktuell in den USA aufgerufenen Verkaufspreises von 110 bis 130 Dollar pro Dosis wird uns so schwindelig, dass wir das Ergebnis hier nicht mehr zuverlässig ausrechnen können. Das entspräche nämlich 280 Millionen 100-Euro-Scheinen.
Fassen wir kurz zusammen: Die Kommission schlägt vor, auf 220 Millionen ursprünglich bestellte Pfizer-Dosen gegen eine Stornogebühr von 2,2 MILLIARDEN Euro zu verzichten, und gibt im Gegenzug eine als Nachverhandlung getarnte Neubestellung über 280 Millionen Einheiten auf, die mit einer Summe zwischen 5,6 und 28 MILLIARDEN zu Buche schlägt.
Damit ersetzt sie eine Pfizer gegenüber bestehende Zahlungverpflichtung in Höhe von (ziemlich genau) 10 MILLIARDEN Euro durch eine Pfizer gegenüber bestehende Zahlungsverpflichtung in Höhe von (mindestens) 10 MILLIARDEN Euro.
Unnötig zu erwähnen, dass Pfizer – Stichwort Steueroptimierung – seine in der EU erwirtschafteten Gewinne, bevor sie endgültig abfließen, natürlich über die legalen EU-Steueroasen Irland, Niederlande und Luxemburg abwickelt – zu einem Steuersatz, der Ihnen da draußen Tränen in die Augen treiben dürfte.
Und unnötig zu erwähnen, dass die Kommission dem Unternehmen damit zum zweiten Mal die unangefochtene MONOPOLSTELLUNG im europäischen Covid-Impfgeschäft verschafft. »Wenn BioNTech/Pfizer in den nächsten Jahren etwa 70 Millionen Dosen pro Jahr liefern, ist das so ziemlich der gesamte Markt«, zitiert die Financial Times »eine mit den Verhandlungen vertraute Person«. Das ist nicht nur ein erneuter Verstoß gegen das EU-weit sakrosankte Wettbewerbsprinzip, sondern steht auch in krassem Gegensatz zum Gebot der Diversifizierung, das für die EU-Beschaffungspolitik nicht weniger gilt als für ihr Gesundheitsportfolio: »Die Diversifizierung des Portfolios ist entscheidend«, sagt die Leiterin der Europäischen Arzneimittelagentur, Emer Cooke.
Man muss an dieser Stelle vielleicht noch einmal daran erinnern, um wen es sich bei den hier auftretenden Entscheidungsträgern handelt. Weder befindet sich die EU-Kommission auf einer bemannten Mission in den rechtsfreien Raum eines wertenihilistischen Orbits noch kommt Kommissionspräsidentin von der Leyen ein Status zu, der es ihr auch nur versuchsweise erlaubte, sich in die Nähe bananenrepublikanischer Potentaten oder der absolutistischen Monarchie verstrichener Geschichtsabschnitte zu bewegen. Kommission und von der Leyen sind Exekutivbeamte – und als solche den EU-Bürgern gegenüber rechenschaftspflichtig, hinter welchen geheimen Kalendertürchen ihre Vertragsanpassungen auch immer versteckt sein mögen.
»Unter Kommissionspräsidentin von der Leyen hat die Tendenz von EU-Institutionen, sich ihrer Rechenschaftspflicht durch Verschanzung hinter einem demokratieverachtenden Bollwerk aus Undurchsichtigkeiten zu entziehen, ein alarmierendes Ausmaß angenommen.«
»Transparenz ist einer der wichtigsten Grundsätze der EU und verpflichtet sie, Informationen über politische Entscheidungen und Ausgaben offenzulegen und das Prinzip der Informationsfreiheit zu wahren«, gibt die Selbstdarstellung der Europäischen Union diesen Grundsatz mit gewohnt streberhafter Treffgenauigkeit wieder. Und als wir das letzte Mal nachgesehen haben, war dessen vielfache Verankerung in den EU-Verträgen auch noch nicht aufgehoben: Artikel 10 des Vertrages über die Europäische Union, Artikel 15 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union und so weiter und so fort.
Unter Kommissionspräsidentin von der Leyen hat die Tendenz von EU-Institutionen (und -Beamten), sich ihrer geschuldeten Rechenschaftspflicht durch gemeinschaftliche Verschanzung hinter einem demokratieverachtenden Bollwerk aus Undurchsichtigkeiten zu entziehen, ein alarmierendes Ausmaß angenommen.
Machen Sie sich das immer wieder klar: Transparenz ist keine Ihnen von metaphysisch entrückten Instanzen zu gewährende Gnade, sie steht Ihnen schlechterdings zu. Sie haben das (unveräußerliche) Recht, vollumfänglich zu erfahren, was die von Ihnen in Macht gesetzten Amtsträger in Ihrem Namen tun.
Und die Medien sollten dabei ihr verlässlich wummernder Bassverstärker sein. Alles andere wäre keine moderne Demokratie, sondern die Gesellschaftsordnung von 1648. Oder ein Live-Konzert der Kelly Family (unplugged).
Dasselbe Prinzip gilt übrigens auch für die zunehmend enthemmten Waffen- und Munitionskäufe Ihrer EU. Die Bewilligung von Projekten aus dem 8 Milliarden Euro schweren Europäischen Verteidigungsfonds hat die Kommission einem undurchsichtigen Netz »externer Experten« übertragen, ohne dass die Vermeidung von Interessenskonflikten und die Einhaltung des EU-Verhaltenskodex dabei auch nur annähernd gesichert wären. Die Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly wies laut Politico darauf hin, dass die Namen dieser Experten nirgends zu finden wären, was für EU-Verhältnisse ungewöhnlich sei und ihrer Meinung nach die öffentliche Kontrolle untergrabe.
Dieser Meinung sind wir auch. Und im Übrigen noch der, dass diese Dame nächstens Mal Kommissionspräsidentin werden sollte. Eine weitere Amtszeit von von der Leyen können wir uns – wegen all der von ihr zuverlässig ausgelösten Effekte – nämlich kein zweites Mal leisten.
P.S.: Im Europäischen Parlament haben Grüne einen Covid-Untersuchungsausschuss übrigens nicht behindert, sondern vorangetrieben – natürlich nicht die deutschen, sondern die französischen, die mit ihren verwahrlosten Kollegen im Deutschen Bundestag längst nicht viel mehr als den Parteinamen teilen.
P.P.S.: Pfizer-Chef Albert Bourla hatte keine Zeit, dem COVID-Untersuchungsausschuss des Europaparlaments Rede und Antwort zu stehen, vielleicht musste er eine Grube für einen neuen Geldspeicher ausheben, Smiley. Auch moderneres Kommunikationsgerät scheint er nicht zu besitzen, andernfalls er doch von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hätte, sich dem Bündel offener Fragen per komfortabler Videozuschaltung zu stellen.
Für die Kommissionspräsidentin gilt beides entsprechend – zu einer Befragung vor dem Untersuchungsausschuss ist sie trotz Vorladung niemals aufgekreuzt.
P.P.P.S.: Ein von der französischen Grünen Michèle Rivasi eingebrachter Antrag, den Pfizer-Lobbyisten im Gegenzug für die Missachtung der europäischen Demokratie wenigstens ihren privilegierten Zugang zu den EU-Institutionen zu beschneiden, wurde vom Präsidium des Europäischen Parlaments blockiert, dem neben dem Gesicht von Parlamentspräsidentin Roberta Metaxa auch die weltbekannten Vizes Rainer WIELAND (CDU), Katarina BARLEY (SPD) und Nicola BEER (FDP) angehören. Man wolle, ließ das Präsidium außerdem wissen, Frau von der Leyen zur SMS-Affäre selbst befragen, höchstens unter Beiziehung der Fraktionsvorstände, aber unter Ausschluss jeder Öffentlichkeit, versteht sich – und auch das erst irgendeines fernen Tages, wie wir sehen, denn seither sind ja erst etwa ein Dutzend Präsidiumssitzungen verstrichen.
Martin Sonneborn ist Mitherausgeber der »Titanic«. Er studierte Publizistik, Germanistik und Politikwissenschaften in Münster, Wien und Berlin. Er verfasste seine Magisterarbeit (selbstgefälscht) über die absolute Wirkungslosigkeit moderner Satire.
Claudia Latour ist politische Beraterin. Sie studierte Ökonomie, Kulturwissenschaften und Geschichte in Berlin (Ost) und Cambridge. Sie war zwanzig Jahre Redakteurin bei Alexander Kluge, danach Radikalisierung in Brüssel. Ihr letztes Buch »99 Ideen zur Wiederbelebung der politischen Utopie« erschien 2021 bei KiWi.